Gerechtigkeit im Zwielicht – Wien, Bühne eines leisen Auftritts
Die türkische Qualitätszeitung Cumhuriyet (Die Republik), die älteste Zeitung der Türkei, hat am 28. September 2025 auf Seite zwei ihrer Prominenten-Rubrik einen Essay mit dem Titel „Die Gerechtigkeit, die im Herbst auf die Bühne fällt“ von Birol Kılıç aus Wien veröffentlicht. Die „Neue Heimat Zeitung“ (Yeni Vatan) hat den Artikel übersetzt.
Cumhuriyet, Seite 2, Birol Kilic, Wien, 28.09.2025,
Die Gerechtigkeit, die im Herbst auf die Bühne fällt
In Wien ist der Herbst nicht nur der Fall der Blätter, sondern das Aufsteigen von Gedanken, Gefühlen und Gewissen auf die Bühne. Mein Weg von Istanbul nach Wien – Der Herbst in Wien als Bühne der Erinnerung.

Im September und Oktober erzählen die Aufführungen in der Wiener Oper, in den Theatern und Musicals nicht nur von Kunst, sondern wirken wie ein Echo alter Gesellschaften – von ihren stürmischen Tagen bis zu ihrem Ruf nach Recht und Gerechtigkeit, ihren Träumen und Konfrontationen.
Ich erlebe meinen fünfunddreißigsten Herbst in Wien. Der stille Fluss der Zeit trägt sowohl Melancholie als auch Dankbarkeit.
Jedes Jahr, wenn diese Jahreszeit kommt, erwacht in mir der Duft Istanbuls. Der vertraute Geruch der Erde nach dem Regen… Zeuge meiner Kindheit, meiner Jugend, der nassen Gehwege vor dem Haus.
Die Wellen, die der Südwind auf dem Meer formt, die Momente mit Tee im Dampfer gegenüber den Möwen… Und in diesem Augenblick vermisse ich nicht nur einen Duft, sondern eine Zeit, ein Gefühl, eine Welt.
Die Stille der Gerechtigkeit
Die Welt, aus der ich aus Istanbul komme, unterscheidet sich stark von der Welt in Wien. In diesem Bewusstsein möchte ich Sie auf einen gedanklichen Rundgang durch die Opern-, Theater- und Musicalszene Wiens mitnehmen – jener Stadt, in der Bühnenkunst nicht nur gelebt, sondern durchdrungen wird.
In Wien bieten Bühnen nicht bloß Aufführungen; sie bringen Gedanken, Gefühle und Gewissen zum Vorschein. Jedes Theater, jede Oper ist ein Spiegel der Zeit. Ein Stück im Burgtheater stellt nicht nur seine Figuren, sondern auch das Publikum infrage. Ein Text im Volkstheater durchquert das Heute und berührt das Gestern. In der Wiener Staatsoper hallt in jeder Arie die innere Stimme des Menschen wider. In dieser Stadt ist Kunst nicht bloß Ästhetik – sie ist eine Lebensform.
In dieser Saison greifen mehrere Inszenierungen Themen wie Recht, Gesetz und Gerechtigkeit direkt auf. Die verlorene Ehre der Katharina Blum zeigt, wie die Macht der Medien individuelle Rechte untergräbt. Die letzten Tage der Menschheit bringt die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges auf die Bühne – und mit ihnen die stille Abwesenheit der Gerechtigkeit.
Wien beherbergt vier große Opernhäuser: die Wiener Staatsoper, die Volksoper Wien, das Theater an der Wien und die Wiener Kammeroper. Darüber hinaus gibt es über 30 Konzertsäle, darunter das Wiener Musikverein, das Wiener Konzerthaus, MuTh – Konzertsaal der Wiener Sängerknaben – und das Radiokulturhaus. Werke wie Mozarts Don Giovanni bieten eine musikalische Reflexion über Moral und Strafe, während Die Zauberflöte den Kampf zwischen Licht und Dunkelheit in einer faszinierenden Bildsprache erzählt.
Wien ist eine Stadt, die Imperium und Republik, Aufstieg und Zerfall erlebt hat. Was die Türkei heute ohne Reformen und ohne eine echte Renaissance durchleidet – trotz Atatürks moderner Türkei, die einst vieles auf einen Schlag ermöglichte und deren Kämpfe bis heute andauern – hat Wien bereits durchschritten: mit Schmerz, aber auch mit Erkenntnis. Deshalb verlangt diese Stadt ein feines historisches Bewusstsein. Wer ihre Bühnen nur als Orte der Kunst und Kultur betrachtet, verpasst ihren eigentlichen Sinn: Sie sind Räume der Erinnerung, der Empathie und der stillen Belehrung.
Dass selbst viele Einheimische und Zugewanderte diese Tiefenschichten nicht kennen, ist eine stille Tragik. Es sollte Pflicht sein, die Geschichte Wiens, des Staates und der Demokratie zu verstehen – nicht als Lernstoff, sondern als innere Haltung. Denn nur wer die freiheitlich-pluralistische, rechtsstaatliche und auf Gewaltenteilung basierende Grundordnung begreift, kann sie auch als „wehrhafter Demokrat“ verteidigen.
In Wien erinnern Theater, Opern und Museen nicht nur an Vergangenes. Sie zeigen, dass Gerechtigkeit kein fertiger Zustand ist, sondern eine fortwährende Suche – oft leise, aber nie belanglos.
Trotzdem muss man jeden Tag in Wien und Österreich für diese demokratischen Werte wachsam bleiben. Sie sind kein Besitz wie ein unbefristeter Mietvertrag oder ein im Grundbuch eingetragenes Haus – sondern eine fragile Ordnung, die jederzeit durch andere Kräfte gekündigt oder in den Konkurs der Geschichte gezogen werden kann.
Darum hat die Gerechtigkeit, die im Herbst die Bühne betritt, ein besonders stilles Gewicht und ist von besonderer Bedeutung.
Das Leben ist ein Traum
Kunst ist hier kein teures Privileg, sondern ein zugänglicher Raum der Empfindsamkeit – für jedes Budget. Mit Eintrittskarten zwischen 5 und 15 Euro betreten Menschen eine Welt, die bewegt, verwandelt und zum Ausdruck bringt. Zivilisation beginnt mit Kultur, Reinheit und Anmut. Kunst und Kultur sind eines der wirksamsten Mittel gegen Verrohung und Lümpenisierung.
In Wien öffnet sich die Bühne nicht nur für das Bürgertum, sondern auch für jene, die aus den Hinterhöfen der Migration kommen und am Rand der Zivilisation Halt suchen. Die Bühne ist ein Ort, der das Gewissen der Gesellschaft weckt – sie erinnert an Empfindsamkeit, Denken und gemeinsame Werte.
Ein Theaterabend in Istanbul, der Duft von Sahlep (ein heißes, cremiges Getränk aus Orchideenknollen, mit Zimt bestreut) in Kadıköy, die Stimmen aus einem Durchgang in Beyoğlu (1990)… Dort beginnt die Bühne auf der Straße und lebt im Herzen weiter. In Wien beginnt sie im Saal und vertieft sich im Gedanken. Zwei Städte, zwei Jahreszeiten – ein einziger Weg: die innere Reise des Menschen.
Das Leben ist ein Traum, eine Bühne… Eine Reise mit Frühling und Herbst, mit vielen Haltestellen. Ob in Istanbul oder in Wien – entscheidend ist der Weg. Was unsere Richtung auf diesem Weg bestimmt, sind nicht Worte, sondern Haltungen – für Recht, Gerechtigkeit und Werte. Sie stehen über jedem Satz.
Quellen
Die türkische Qualitätszeitung Cumhuriyet (Die Republik) hat am 28. September 2025 auf ihrer Prominenten-Seite 2 einen Essay mit dem Titel „Die Gerechtigkeit, die im Herbst auf die Bühne fällt“ von Birol Kılıç aus Wien veröffentlicht.
https://www.cumhuriyet.com.tr/pazar-yazilari/sonbaharda-sahneye-dusen-adalet-2438836