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Das Phantom der Oper und die Masken der Macht in der Türkei

Das Phantom der Oper und die Masken
der Macht in der Türkei

Die traditionsreiche türkische Qualitätszeitung Cumhuriyet (Die Republik), die älteste noch erscheinende Zeitung der Türkei, veröffentlichte am 9. November 2025 auf Seite zwei in ihrer Rubrik für prominente Autoren einen Essay von Birol Kılıç aus Wien mit dem Titel „Das Phantom der Oper in Wien und die Auseinandersetzung mit der Türkei“.  Wir haben den Beitrag ins Deutsche und Englische übertragen.

‚Das Phantom der Oper“ in Wien und die Auseinandersetzung mit der Türkei

Cumhuriyet (Die Republik), Seite 2, Birol Kilic, Wien-Istanbul, 12.10.2025

„Das Phantom der Oper“, Andrew Lloyd Webbers Musical aus dem Jahr 1986, hat die Bühne längst hinter sich gelassen und ist zu einem globalen Klassiker geworden. Die Handlung spielt im labyrinthischen Unterbau der Pariser Oper und erzählt die tragische Beziehung zwischen dem Phantom, einem Ausgestoßenen, der einzig durch die Musik lebt, und der jungen Sopranistin Christine. Sein von Geburt an entstelltes Gesicht und eine Kindheit voller Schmerz lassen die Maske nicht nur zum Schutz vor den Blicken der Welt werden, sondern zu einem stillen Aufstand gegen eine Gesellschaft, die Schönheit mit Wert verwechselt.

Ich sah dieses Musical erstmals 1989, Anfang zwanzig, während meines Studiums im Theater an der Wien. Die Karten waren erschwinglich, die Bühne verzaubernd. Als ich es 2025 erneut sah, überkam mich die Nostalgie von 35 Jahren. Eine andere Inszenierung, doch derselbe innere Nachhall. Die Zeit war vergangen, aber das Phantom war immer noch da.

Die Maske des Phantoms

„Das Phantom der Oper“ ist mehr als eine Geschichte über unerwiderte Liebe und Ausgrenzung; es ist die Anklage einer Welt, die ihre Verletzlichsten nicht schützt. Musik und Text ziehen das Publikum in diese Dunkelheit hinein. Der Ruf des Phantoms „Sing für mich“ ist nicht nur ein Befehl, sondern ein Schrei nach Identität und Zugehörigkeit.

Die Maske des Phantoms ist Metapher für Einsamkeit, Zorn und Zurückweisung. Auch heute tragen wir ähnliche Masken: Social-Media-Personas, berufliche Rollen, familiäre Erscheinungsbilder. Sie sind die modernen Schleier, hinter denen wir unser wahres Ich verbergen. Dieses Musical ist daher nicht bloß eine Liebesgeschichte, sondern eine Allegorie innerer Konflikte und jener Schutzwälle, die wir gegen gesellschaftliche Urteile errichten. Die Maske wird zum Spiegel, der das Publikum auffordert, den eigenen Schleier zu betrachten. Bühne und Musik unterhalten nicht nur, sie fordern Selbstprüfung ein.

Hinter der Maske und die Türkei

Und dann dieser Moment: Unter den gedämpften Lichtern des Raimund Theaters in Wien, während mein Blick auf der Maske des Phantoms ruht, wandern meine Gedanken in die Türkei. Ich sehe die Masken jener, die einst mit Versprechen von Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit an die Macht kamen. Hinter diesen Masken hat sich eine Realität aufgebaut, die von wachsender Armut, institutionalisierter Korruption und generalisierte Repression geprägt ist. Die Maske steht sinnbildlich für jene Heuchelei, Scheinheiligkeit, die Gerechtigkeit und Menschenwürde verdeckt. Nicht ohne Grund gilt folgende Diagnose als zutreffend: „Scheinheiligkeit ist die Sprache der Korrupten.“

Während ich das Phantom in Wien sehe, überflutet Istanbul mein Inneres – eine Stadt, die ich vergessen möchte und doch nicht kann. Meine Geburtsstadt. Eine Stadt voller Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Denn manchmal spielt das eindringlichste Theater nicht auf der Bühne, sondern im rauen Schauspiel des wirklichen Lebens.

„3Y“ : Yolsuzluk (Korruption), Yasaklar (Verbote), Yoksulluk (Armut)

Solange das Phantom seine Maske auf der Bühne trägt, blickt das Publikum in den dunklen Spiegel seiner Zeit. Diese Maske verbirgt nicht nur ein Gesicht, sie verschleiert eine ganze Gesellschaft. Die Zerbrechlichkeit, die wir auf der Bühne sehen, ist das Echo eines Gewissens, das im Streben nach Gerechtigkeit zum Schweigen gebracht wurde. Ich erinnere mich an jene, die in der Türkei damals versprachen, gegen die „3Y“ zu kämpfen: Yolsuzluk (Korruption), Yasaklar (Verbote), Yoksulluk (Armut). Wir applaudierten hoffnungsvoll. Heute jedoch erscheinen diese Versprechen wie bloße Bühnenkostüme. Mit ihren Masken blendeten sie uns; später versuchten sie, den Widerspruch durch Instrumentalisierung der Justiz zum Schweigen zu bringen.

Teil eines Kunstwerks zu sein – ob als Bühnenkünstler, allein in der Küche oder als nachdenklicher Beobachter mit einem Gewissen, das die Menschenwürde über alles stellt – heißt, mit dem Werk zu sehen, zu denken und die Wahrheit hinter dem Vorhang zu erkennen.

Deshalb klingen die Worte Atatürks anlässlich der 10. Republikserklärung vom 29. Oktober 1933 heute noch tiefer: „Künstler küssen keine Hände; die Hände werden den Künstlern geküsst.“ Echte Kunst, echte Künstler und der aufgeklärte Mensch fürchten die Macht nicht. Sie küssen keine Hände; im Gegenteil: Die Macht muss sich vor der Wahrheit verneigen. Das Ideal der modernen Republik muss auf diesem Fundament von Gerechtigkeit, Ethik und menschlicher Würde bestehen und weiterleben.

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Es lebe die moderne, soziale, säkulare und freiheitlich-demokratische Republik Türkei – 102 Jahre jung, unabhängig, zeitgemäß und gerecht: die Verwirklichung von Atatürks Vision einer modernen Zivilisation, gegründet 1923 in schwierigen Zeiten.

Quellen:

Cunhuriyet

Aktuell Raimund Theater

Musical Vienna

Tickets

Vergangenheit

Englisch : https://www.youtube.com/watch?v=EGb4hj-EXt0

https://www.youtube.com/watch?v=Ddrlhgy59fQ

https://www.youtube.com/watch?v=HJPxwneN-wk

https://www.youtube.com/watch?v=dQnwBCXgdvA

Birol Kilic

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