Die traditionsreiche türkische Qualitätszeitung Cumhuriyet („Die Republik“), die älteste noch erscheinende Zeitung der Türkei, veröffentlichte am 19. Oktober 2025 auf Seite zwei in ihrer Rubrik einen Essay von Birol Kılıç aus Wien mit dem Titel „Gerechtigkeit und Hoffnung im Schatten Kafkas“ (Justice and Hope in Kafka’s Shadow), auf Türkisch: „Kafka’nın gölgesinde adalet ve umut“.
Wir haben den Beitrag sowohl ins Deutsche als auch ins Englische übersetzt.
Gerechtigkeit und Hoffnung im Schatten Kafkas
Cumhuriyet (Die Republik), Seite 2, Birol Kilic, Wien-Istanbul, 12.10.2025
Haben Sie sich jemals gefühlt, als würden Sie angeklagt, ohne zu wissen, wessen man Sie beschuldigt? Oder als befänden Sie sich in einem Gerichtssaal, ohne je ein Urteil gehört zu haben? Manchmal, wenn man morgens aufwacht, erscheint das Leben selbst wie ein Gefängnis – wie ein Tribunal. Josef K. aus Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ ist vielleicht genau der Name dieses Gefühls.
Der Mann zwischen den Sprachen
Franz Kafka wurde 1883 in Prag geboren, als Bürger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Aufgewachsen zwischen verschiedenen Identitäten, starb Kafka 1924, ohne sich je wirklich irgendwo zugehörig gefühlt zu haben. Sein Satz „Deutsch berührt meine Sprache, aber Tschechisch mein Herz“ ist ein prägnanter Ausdruck dieser zerrissenen Identität.
Die Sprache der Ohnmacht
Zu Kafkas Hauptwerken zählen „Der Prozess“, „Das Schloss“, „Der Verschollene“ und „Die Verwandlung“. Mit einer klaren, aber symbolisch aufgeladenen Sprache behandelt er Themen wie Entfremdung, Ohnmacht und die Hilflosigkeit gegenüber der Autorität. Seine Prosa vereint nüchterne Realität mit einem Bewusstseinszustand, der am Rande des Absurden wandelt, und hebt so die Einsamkeit des modernen Menschen gegenüber dem System auf eine universelle Ebene.
Was „kafkaesk“ wirklich in der Türkei bedeutet
Diese Erzählweise hat den Begriff „kafkaesk“ geprägt – ein Ausdruck für die existenzielle Beklemmung und das Eingesperrtsein des Individuums im System. Auch heute spiegelt sich dieser kafkaeske Zustand in der seelischen Verfassung von Millionen Menschen in der Türkei wider, insbesondere in der Figur Josef K. aus „Der Prozess“.
Die unsichtbare Anklage
Josef K. wird in „Der Prozess“ wegen eines unbekannten Verbrechens verhaftet. Weder die Anklage ist klar, noch ist ein Gericht sichtbar, noch wird ihm eine Verteidigung gewährt. Alle gehen davon aus, dass er schuldig ist; am Ende wird er ohne jede Erklärung hingerichtet. Kafka beschreibt hier nicht nur das Drama eines Einzelnen, sondern die willkürliche und unterdrückende Macht eines Systems, das an die Stelle der Gerechtigkeit tritt.
Der türkische Josef K.
Erleben nicht auch Menschen in der Türkei oder in der Diaspora das Gefühl von Josef K.? Jene, die am Rand der Meinungsfreiheit stehen, sich in bürokratischen Labyrinthen verlieren oder als unschuldig Schuldige behandelt werden? Denn in „Der Prozess“ ist die Anklage unklar, die Verteidigung eingeschränkt und das Urteil oft schon gefällt, bevor das Verfahren beginnt.
102 Jahre später: Das kafkaeske Erbe
Als 1923 die moderne Republik Türkei gegründet wurde, lebte Kafka noch. Heute, im 102. Jahr der Republik, scheint es, als fühlten sich viele Bürger wie Josef K. Die Ungewissheit der Justiz, wirtschaftliche Erschütterungen, politischer Loyalitätsdruck und bürokratische Willkür erzeugen eine kafkaeske Beklemmung in den Seelen. Kürzlich wurde ein junger Mensch allein wegen eines Lächelns verhaftet – er erlebt, was es heißt, die eigene Identität nicht verteidigen zu können. Er ist kein Bürger mehr, sondern eine Aktennummer.
Die Geschichte der verlorenen Puppe
Die von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant überlieferte Geschichte betrifft all jene, die inmitten der Menge zunehmend vereinsamen. Franz Kafka, 40 Jahre alt und unverheiratet, begegnete eines Tages in einem Berliner Park einem Mädchen, das weinte, weil es ihre Lieblingspuppe verloren hatte. Kafka suchte mit dem traurigen Mädchen überall nach der Puppe – vergeblich.
Briefe aus einer anderen Welt
Obwohl sie die Puppe nicht fanden, brachte Kafka dem Mädchen beim ersten Treffen einen Brief, angeblich von der Puppe selbst, und las ihn ihr vor: „Bitte weine nicht um mich und sei nicht traurig. Ich bin auf eine lange Reise gegangen, um die Welt zu sehen. Ich werde dir erzählen, was ich erlebt habe und welche Abenteuer ich hatte.“
Dies war der erste von vielen Briefen, die noch folgen sollten. So begann eine Geschichte, die bis zum Ende von Kafkas Leben andauerte. Bei jedem Treffen las Kafka dem Mädchen neue Briefe vor, in denen er die imaginären Abenteuer der geliebten Puppe schilderte. Das Mädchen fand Trost in diesen Briefen.
Die letzte Begegnung
Schließlich kam es zum letzten Treffen. Kafka brachte dem Mädchen eine neue Puppe mit. Das Mädchen starrte überrascht auf die Puppe, die ihrer alten kaum ähnelte: „Sie sieht gar nicht wie meine Puppe aus“, sagte sie. Im letzten Brief der verlorenen Puppe stand: „Sei nicht überrascht. Die lange Reise, die ich nach unserer Trennung gemacht habe, hat mich sehr verändert.“
Daraufhin nahm das Mädchen die Puppe in den Arm und ging glücklich nach Hause. Ein Jahr später starb Kafka. Jahre später, als das Mädchen längst erwachsen war, fand sie in der Puppe, die sie wie einen Schatz gehütet hatte, einen weiteren Brief, den sie zuvor nie bemerkt hatte. Kafka hatte geschrieben: „Alles, was du liebst, wirst du früher oder später verlieren. Vielleicht kommt das Verlorene nie zurück. Aber am Ende wird die Liebe auf irgendeine Weise zu dir zurückkehren.“
Ein Brief an die Verlorenen
Kafkas Literatur aus Wien-Prag ist ein Brief an jene, die sich im System verirren und nach einem Weg suchen. Für alle, die sich in der Türkei wie Josef K. fühlen, gilt dieser Brief an das kleine Mädchen noch immer. Das Wesentliche ist nicht der Satz, sondern der Weg, der ihn trägt – jener Weg, der über jedes Wort hinausgeht. Denn im Gehen selbst liegt die Würde, die Wahrheit und das Bleibende.( Birol Kilic, Wien-Istanbul, 19.10.2025)
Quelle:
Cumhuriyet ( Die Republik, 19.10.2025): Kafka’nın gölgesinde adalet ve umut
https://www.cumhuriyet.com.tr/pazar-yazilari/kafka-nin-golgesinde-adalet-ve-umut-2444884
English
Justice and Hope in Kafka’s Shadow
Cumhuriyet (The Republic), Page 2, Birol Kılıç, Vienna–Istanbul, 12 October 2025
Have you ever felt as if you were being accused without ever knowing what you were being charged with? Or as though you were standing in a courtroom at every moment, without ever hearing a verdict? Sometimes, when you wake up in the morning, life itself seems like a prison, like a tribunal. Josef K., the protagonist of Franz Kafka’s novel The Trial, may well be the very name of that feeling.
The Man Between Languages
Franz Kafka was born in 1883 in Prague, a citizen of the Austro-Hungarian monarchy. Raised amidst multiple identities, Kafka died in 1924 without ever truly feeling that he belonged anywhere. His statement, “German touches my language, but Czech touches my heart,” is a poignant expression of this divided identity.
The Language of Powerlessness
Kafka’s major works include The Trial, The Castle, America, and The Metamorphosis. Using a clear yet symbolically charged language, he explores themes of alienation, helplessness, and the individual’s impotence in the face of authority. His prose fuses stark reality with a state of consciousness that borders on the absurd, elevating the loneliness of modern humans within the system to a universal dimension.
What ‘Kafkaesque’ Really Means in Turkey
This narrative style gave rise to the term “Kafkaesque”—a description of existential anxiety and the individual’s entrapment within a system. Today, this Kafkaesque condition is reflected in the emotional state of millions in Turkey, especially through the figure of Josef K. in The Trial.
The Invisible Accusation
In The Trial, Josef K. is arrested for a crime that is never clearly specified. The charges are vague, the court remains invisible, and no defense is provided. Everyone assumes he is guilty; in the end, he is executed without explanation. Kafka portrays not only the drama of an individual, but also the arbitrary and oppressive power of a system that replaces justice.
The Turkish Josef K.
Do not many people in Turkey, or within the diaspora, experience Josef K.’s condition? Those who stand at the margins of free expression, who become lost in bureaucratic labyrinths, or who are treated as guilty despite their innocence? In The Trial, the accusation is unclear, the defense restricted, and the verdict often predetermined before the trial even begins.
102 Years Later: Kafka’s Legacy
Kafka was still alive when the modern Republic of Turkey was founded in 1923. Today, in the Republic’s 102nd year, many citizens seem to live as Josef K. Judicial uncertainty, economic upheavals, political loyalty pressures, and bureaucratic arbitrariness generate Kafkaesque anxiety in the soul. Recently, a young person was arrested for nothing more than a smile—he experienced what it means to be unable to defend one’s own identity. He is no longer recognized as a citizen, but reduced to a case file.
The Story of the Lost Doll
A story preserved by Kafka’s last companion, Dora Diamant, speaks to all those who feel increasingly isolated within the crowd. Kafka, then forty and unmarried, once encountered a girl crying in a Berlin park because she had lost her favorite doll. Kafka searched everywhere with the grieving child for the doll—in vain.
Letters from Another World
Though the doll was never found, Kafka brought the girl a letter at their next meeting, allegedly written by the doll herself, and read it aloud: “Please do not cry for me and do not be sad. I have gone on a long journey to see the world. I will tell you what I have experienced and the adventures I have had.”
This was the first of many letters to follow. Thus began a story that continued until the end of Kafka’s life. At every meeting, Kafka read the girl new letters describing the imaginary adventures of her beloved doll. The girl found comfort and solace in these letters.
The Final Encounter
Eventually, they met for the last time. Kafka brought the girl a new doll. She stared at it in surprise—it bore little resemblance to the old one. “It doesn’t look like my doll at all,” she said. In the final letter from the lost doll, it read: “Do not be surprised. The long journey I undertook after our separation has changed me profoundly.”
The girl embraced the doll and went home happy. A year later, Kafka passed away. Years after that, when the girl had grown up, she discovered a final letter hidden inside the doll she had cherished all her life. Kafka had written: “Everything you love you will eventually lose. Perhaps what is lost will never return. But in the end, love will return to you in some form.”
A Letter to the Lost
Kafka’s literature—from Vienna to Prague—is a letter to those who lose themselves in the system and search for a way out. For all who feel like Josef K. in Turkey, this letter to the little girl still resonates. What matters is not the sentence itself, but the path it carries—the path that transcends every word. For in the act of walking lies dignity, truth, and permanence.