„Grüße aus Auschwitz“
DAS EINSPRUCH-INTERVIEW MIT ROBERT MENASSE: „Grüße aus Auschwitz“ und die Zukunft der EU. Ansichtskarten aus Auschwitz – Wider die Sachzwänge nationaler Interessen in der Europäischen Union (EU).
Von Birol Kilic, Wien
Mit einem flammenden Plädoyer für Europa eröffnete der bekannte österreichische Schriftsteller Robert Menasse den fünften Mediengipfel. Anfang Dezember 2011 in Lech am Arlberg. Alljährlich versammeln sich im mondänen Schidorf Vordenker aus den unterschiedlichsten Disziplinen: Ziel der gemeinsamen Analyse rezenter Problemfelder ist das Finden konkreter Lösungsansätze. Menasse hält sich derzeit immer wieder in Brüssel auf, um für sein nächstes Buch zu recherchieren – sein mit Spannung erwarteter Roman beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Europa nach der Überwindung der Nationalstaaten gestalten könnte. Als Mitorganisator war auch der „Verband der Auslandspresse in Wien“, www.auslandpresse.at, in Lech am Arlberg tätig, so war das Interesse seitens zahlreicher internationaler Auslandsjournalisten sehr hoch. Einzelne EU-Staaten haben sich, so Menasse, nicht zuletzt aufgrund des engstirnigen Denkens ihrer Repräsentanten im Laufe der Geschichte als menschenverachtend und zerstörerisch erwiesen. Hinter diesem System stecke eine groteske Logik, angesichts derer man die stagnierende und teils rückläufige europäische Integration verstehen müsse – die aktuelle Finanzkrise sei eine Folge davon. Der Widerspruch zwischen so genannten „nationalen Interessen“ und dem supranationalen Gedanken der EU, so Menasse weiter, drohe zur Zerreißprobe Europas zu werden. In gewohnt provokanter Manier rief Menasse im vorweihnachtlichen Lech dazu auf, der Politik ihr Fehlverhalten aufzuzeigen: Man müsste allen, die das europäische Projekt blockieren, „Ansichtskarten aus Auschwitz“ – so auch der Titel seines Eröffnungsprologs beim Mediengipfel am Arlberg – schicken, um ihnen vor Augen zu führen, was diese nationalistische Geisteshaltung schon einmal angerichtet hat. Wir waren neugierig und haben Robert Menasse auf einen Kaffe bei uns im Haus der Zeitschrift DER EINSPRUCH eingeladen.
Einspruch: In Ihrem Eröffnungsprolog „Grüße aus Auschwitz“ beim „Mediengipfel am Berg“ im Dezember vergangenen Jahres bezweifelten Sie „die demokratische Legitimation jener Regierungschefs, die sich damit brüsten, was sie in Brüssel wieder gegen die Europäische Union und für ihren kuscheligen Nationalstaat durchgesetzt haben.“ Woher bezieht die EU überhaupt ihre Legitimation?
Robert Menasse: Mit der Rede „Grüße aus Auschwitz“ wollte ich an die ursprüngliche Idee des europäischen Einigungsprojekts erinnern. Europa wurde in der Geschichte immer wieder durch Konflikte und Feindschaften zwischen Religionen und Nationen verwüstet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Nationalismus zu zwei furchtbaren Kriegen und zu den größten Menschheitsverbrechen geführt, letztlich zu Auschwitz. Nach 1945 war klar: Das soll nie wieder geschehen dürfen! Die anfängliche Überlegung war, die verschiedenen europäischen Nationen – zunächst vor allem die traditionell verfeindeten Staaten Frankreich und Deutschland – ökonomisch eng zu verschränken und politisch so zu verbinden, dass gegenseitige Kriege unmöglich werden. Deshalb sollten die Nationen nach und nach Souveränitätsrechte aufgeben und einer supranationalen Institution übertragen. Damit war eine nachnationale Entwicklung eingeleitet, deren Ziel das Verschwinden der Nationalstaaten und das Entstehen eines gemeinsamen, friedlichen Europas war.
Einspruch: Wie lässt sich also wieder an die Gründungsidee der Europäische Union anknüpfen?
Menasse: Der Nationalismus in seiner brutalsten Form hat zu Auschwitz geführt. Wenn man das Problem ein für allemal an der Wurzel lösen will, muss man die Nationen entmachten: Die gemeinsamen Interessen müssen größer sein als die nationalen Interessen. Wenn also „Nie wieder Auschwitz!“ der Vernunftgrund der Europäischen Union ist, dann muss man den heutigen Regierungschefs der Mitgliedstaaten „Grüße aus Auschwitz“ schicken, um sie daran zu erinnern – denn sie haben es vergessen. Denn wenn heute die Regierungschefs nach Brüssel fliegen, um dort europapolitische Entscheidungen zu treffen, dann verteidigen sie dort nur ihre nationalen Interessen – oder das, was sie dafür halten –, dann fliegen sie in ihre Länder zurück und erklären, was sie gegen die EU für ihr Land durchgesetzt oder verhindert haben. Das ist gegen den Sinn und den Geist der Europäischen Union.
Einspruch: Wie beurteilen Sie die Führungsrolle von Angela Merkel, der deutschen Bundeskanzlerin, und Nicolas Sarkozy, dem französischen Staatspräsidenten, innerhalb der EU?
Menasse: Die wichtigsten Entscheidungen werden von Frau Merkel und Herrn Sarkozy getroffen, aber in der Europäischen Verfassung ist „Merkozy“ nirgends als gesetzgebende Institution Europas festgeschrieben. Kein Mensch in 25 von 27 Mitgliedstaaten hat die beiden gewählt. Was sie tun, ist gegen die Idee der EU, und wie sie es tun, ist noch dazu demokratiepolitisch höchst bedenklich.
Einspruch: Sie haben jahrelang im Ausland gelebt. Was sind Ihre Erfahrungen?
Menasse: Je länger ich im Ausland lebte – und ich habe in vielen verschiedenen Ländern gelebt –, desto mehr habe ich das Gefühl bekommen, dass es das gar nicht gibt: Ausland! Es ist eine Welt und die Vielfalt ist ihr Reichtum. Es gibt Heilige und Verbrecher und alles dazwischen – überall. Wenn man die Kommunikation sucht, dann merkt man: Es ist nicht wahr, dass man „zu Hause“ mehr versteht. Man sollte sich von den Gewohnheiten des Herkunftsortes nicht den Blick für das Große verstellen lassen!
Einspruch: Müssen sich in Österreich die Menschen aus der Türkei Sorgen über ihre Zukunft machen?
Menasse: Alle müssten sich Sorgen machen, dass die EU auseinander fallen könnte. Aktuell ist diese Gefahr aber nicht sehr virulent. Natürlich wird es für die in Österreich lebenden Menschen aus der Türkei einen großen Unterschied machen, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht. Diesbezüglich wird zu beobachten sein, wie sich die EU weiter entwickelt und wie sich die Integrationspolitik in Österreich und in den anderen EU-Staaten gestalten wird. Bekanntlich lehnen sehr viele Österreicher einen EU-Beitritt der Türkei ab. Das hat zahlreiche, vor allem falsche Gründe: Diese Menschen fürchten, dass es im Beitrittsfall zu viele Moslems im „christlichen Abendland“ gibt – das ist aber gegen den Geist der EU, die ja als Friedensprojekt gedacht war, das die historischen Konflikte und Kriege zwischen Nationen und Religionen auf diesem Kontinent ausräumen sollte. Die EU steht für Religionsfreiheit und nicht für die Dominanz einer Religion gegenüber anderen.
Einspruch: Wie sieht die Motivationslage jener Österreicherinnen und Österreicher aus, die einen EU-Beitritt der Türkei ablehnen?
Menasse: Viele Österreicherinnen und Österreicher haben Misstrauen gegenüber einer für sie „fremden Kultur“. Das wird sich legen, weil viele zu genießen beginnen, was diese andere Kultur bietet. Das heißt, diese Kultur wird bald einheimisch sein. Viele Österreicher fürchten aber auch, dass durch einen Beitritt der Türkei anatolische Billigarbeiter kommen und ihnen Arbeitsplätze wegnehmen werden. Diese Angst gab es freilich schon vor dem Beitritt Polens – sie hat sich als unbegründet erwiesen.
Einspruch: Wie lässt sich also ein Mentalitätswandel herbeiführen?
Menasse: Die Frage ist jedenfalls, ob die Mehrheit hierzulande in einigen Jahren europäischer denken wird oder wieder verstärkt kleinkariert-ängstlich-österreichisch. Und umgekehrt: Sehr viel wird davon abhängen, wie sich das Leben der Türken, die schon in Österreich sind, entwickelt. Bekommen sie Chancen? Werden sie „Österreicher türkischer Herkunft mit einem europäischem Bewusstsein“ oder bleiben sie „Türken in einer türkischen Parallelgesellschaft in Österreich“? Werden sie türkisches Nationalbewusstsein für ihr Selbstbewusstsein brauchen? Werden sie sich mit dem Gefühl wachsender „türkischer Macht“ für ihre soziale Misere in Österreich trösten oder werden sie „die Macht der Chancen“ erkennen, die ein Europa mit der Türkei als Mitglied bieten kann? Das wird auf die Stimmung einen großen Unterschied machen, das wird entscheidend dafür sein, ob sich die Menschen fürchten müssen oder das Gefühl haben, dass sie ihr Glück machen können. Ich bin davon überzeugt: Es ist möglich, ein Europa zu bauen, das die finsteren Kapitel im Geschichtsbuch zuschlägt und im Blick nach vorn nicht Angst macht. Aber wie gesagt: Entscheidend im Sinne der europäischen Idee wird sein, wie sich das Verhältnis der Menschen zum Nationalismus entwickelt – sowohl in der EU, als auch beim EU-Beitrittskandidaten Türkei.
Einspruch: Vielen Dank.
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