Einspruch: “Erdogan hat den TürkInnen Selbstwertgefühl gegeben.”

von Birol Kilic, Analyse
Wien, 20.06.2023

Österreich ist nicht nur das vielbesungene “Land der Berge, Land am Strome, … Land der Hämmer, zukunftsreich”, sondern auch offenbar das Land der ExpertInnen. Das ist gut so, wir brauchen Expertinnen und Experten. Nur müssen wir die Spreu vom Weizen trennen.

Die ewigen TürkInnen

Ich möchte gegen die folgenden zwei Punkte, die Herr Kenan Güngör als kolportierter Experte nach den türkischen Parlamentswahlen im österreichischen Fernsehen und in deutschsprachigen Österreichischen Zeitungen anführte, Einspruch erheben, weil sie nicht der Wahrheit entsprechen:

Punkt 1: “In Österreich und Zentraleuropa gibt es eine höhere Sympathie für Erdogan, weil viele Gastarbeiter aus den ländlichen Gebieten der Türkei kommen, wie etwa aus Anatolien. Die dort verbreiteten religiösen und traditionellen Werte werden über die Familien hinweg weitergetragen.”

Punkt 2: “Die Türkei hat sich lange Zeit als Entwicklungsland wahrgenommen, an dem man sich abputzt, durch das ökonomische Wachstum gab es eine Aufwertung des Selbstwertgefühls. Davon profitiert Erdogan immer noch.”

Diese zwei Thesen enthalten meiner Meinung nach falsche Diagnosen und empirisch nicht nachweisbare Behauptungen zu den Türkei-Präsidentschaftswahlen vom 28. Mai 2023 und den darauffolgenden Ausschreitungen in Wien bzw. in der EU. Im Folgenden möchte ich nun meine Anti-Thesen zu diesem Thema präsentieren.

Oft treten die sogenannten ExpertInnen in den österreichischen Medien, wie jetzt wieder erkennbar bezüglich der Türkeiwahl, mit sich wiederholenden Aussagen auf, die bei den modernen, säkularen und liberalen Türkinnen und Türken in Österreich leider große Beunruhigung und sogar Angst verursachen.

Ein Beispiel hierfür ist auch die folgende Äußerung des von uns durchaus geschätzten Kenan Güngör nach den Wahlen in der Türkei am 28. Mai 2023, an welchem Tag in Wien-Favoriten ziemlich bedenkliche Erdogan-Siegesfeiern stattfanden, die weder für die Menschen aus der Türkei noch in Wien-Favoriten angenehm waren: “Erdogan hat den Türken Selbstwertgefühl gegeben”.

Für viele Menschen aus der Türkei brachten die Ergebnisse der Wahlen keine Steigerung des Selbstwertgefühls, vielmehr empfinden sie diese als Schande und zum Fremdschämen, gepaart mit Angst und Schrecken. Ich selbst war am 28. Mai 2023 bei einer dieser Feiern in Wien-Favoriten anwesend und zutiefst schockiert und traurig. Nicht nur weil die Menschen den Wahlsieg von Erdogan feierten, sondern aufgrund der Äußerungen, die ich dort hören musste und aufgrund des induzierten Hasses und der Vorurteile, die durch ständig wiederholter Propaganda, besonders über die sozialen Plattformen der AKP-Regierung aus der Türkei nach Österreich importiert werden. Dabei gilt es nicht nur die Auswirkungen, sondern die Ursachen ausfindig zu machen, welche ich in der türkischen Politik der letzten Jahre verorte. Diese multikausalen Ursachen müssen genau analysiert werden.

Erdogan gibt den TürkInnen Selbstwertgefühl?

Zu Punkt 2: Was ist dieses angebliche Selbstwertgefühl?

Die Türkinnen und Türken in Österreich haben keinesfalls mehr Selbstwertgefühl durch Erdogan erhalten, sondern verspüren vielmehr ein Gefühl der Verlorenheit, der Verfolgung, der Unterdrückung und des Ausspionierens durch die eigenen FreundInnen, die eventuell mit der Erdogan-Regierung und deren Handlangern in Österreich kooperieren. Es ist das Gefühl eines Minderwertigkeitskomplexes, einer Diffamierung, ein Gefühl durch Erdogan “der ewige Türke” zu bleiben. All dies ist aber sicherlich kein Mehr an Selbstwertgefühl! Das Bild der TürkInnen wird hier durch Erdogan und seine AnhängerInnen de facto bei der Aufnahmegesellschaft, sprich der Republik Österreich, dämonisiert. Von welchem Selbstwertgefühl kann man hier sprechen?

Es ist klar, dass die ExpertInnen das Problem einseitig nur von ihrem politischen Blickwinkel aus betrachten. Wir wissen nicht, was diese ExpertInnen wirklich vorhaben oder denken. Herr Kenan Güngör deklariert sich immer als Kurde, trifft auch politische Aussagen wie ein Aktivist und tritt als seriöser wissenschaftlicher Soziologe, Türkei- undTürkenexperte, Islamexperte etc. auf. Wir fragen uns, ob dieses Verhalten glaubwürdig ist? Für uns ist es dies definitiv nicht. Die Voraussetzungen, die zumindest vorhanden sein sollten, namentlich Objektivität und Wissenschaftlichkeit, fehlen. Herr Güngör verursacht Dinge, die er nicht kontrollieren kann. Zum Beispiel wissen wir eines: dass gegenüber den modernen, liberalen oder säkularen AustrotürkInnen mit diesen Pauschalisierungen ein kultureller Rassismus, quasi ein Rassismus ohne Rasse, aktiviert wird. Dagegen erheben wir Einspruch!


Pauschale Karikatur von Türkinnen und Türken

Adressiert werden diese und andere Argumente an PolitikerInnen, JournalistInnen, KirchenvertreterInnen und an die in Entscheidungspositionen sitzenden BürokratInnen, die gegenüber den Menschen aus der Türkei übertriebene negative Vorurteile oder auch zu positive Erwartungen haben. Diese wenden sich dann an die AKP oder Erdogan bzw. lehnen sich an deren verlängerte Arme in Österreich an und müssen aus Angst und Hass (Hass-Liebe) unbedingt einen Konsens mit ihnen finden und sich von ExpertInnen in Form einer Win-Win-Situation abhängig machen.

Das ist fatal oder besser gesagt eine Farce, weil damit ein durch diese sogenannten ExpertInnen porträtiertes Zerrbild oder vielmehr eine pauschale Karikatur der türkischen Gesellschaft als quasi “ewiger Türke” in den Köpfen manifestiert wird.

Nicht alle AustrotürkInnen wählen Erdogan!

Um nun auf Punkt 1 einzugehen:

Die nach außen hin verbreitete Zahl, dass ca. 70% der Menschen aus der Türkei Erdogan gewählt haben heißt nicht, dass 70% aller AustrotürkInnen in Österreich (insgesamt sind es ca. 350.000) Erdogan-SympathisantInnen sind. Doch so ein Bild kann dadurch leicht entstehen und man könnte davon schnell politische Alpträume in Österreich bekommen. Dasselbe gilt übrigens für Belgien, Deutschland, Luxemburg, Holland, etc. Es verbreitet sich unter den TürkInnen ein Gefühl, in Österreich einer übergroßen Wählermehrheit ausgeliefert zu sein oder von dieser in Geiselhaft genommen zu werden, ein Gefühl der Machtlosigkeit.

Kultureller Rassismus

Viele Österreicherinnen und Österreicherfühlen sich bei diesen Zahlen unwohl und schütteln den Kopf darüber, was nach 60 Jahren aus ihren AustrotürkInnen geworden sein soll. Es handelt sich dabei jedoch um einen klaren statistischen Fehlschluss und somit um eine unstatthafte Pauschalisierung, die für viele AustrotürkInnen als “kultureller Rassismus” (auch Kulturalismus, Neo-Rassismus) empfunden wird. Wir müssen beim sehr geehrten Herr “Experten” Güngör, der sich als Kurde in den Medien und besonders auch als Aktivist in den sozialen Medien bewegt, in aller Freundschaft nachfragen: Welches konkrete Selbstwertgefühl soll Erdogan den TürkInnen gegeben haben?

“John Solomos und Les Back vertreten die Auffassung, daß Rasse heute ‘als Kultur kodiert’ wird und daß das zentrale Merkmal dieser Prozesse darin besteht, daß die Eigenschaften kultureller, aber auch politischer Natur von sozialen Gruppen fixiert, naturalisiert und in einen pseudobiologisch definierten Kulturalismus eingebettet werden.” (George M. Fredrickson: Rassismus. Ein historischer Abriß. Hamburger Edition, Hamburg 2004, Einleitung, Seite xy (Memento vom 23. August 2016 im Internet Archive)

Sunntische KurdInnen aus der Türkei wählen Erdogan, auch in Österreich

Herr Güngör sollte vielmehr exklusiv die KurdInnen in Wien unter die Lupe nehmen und erklären, warum die Mehrheit der KurdInnen in Österreich Erdogan wählt.

In Favoriten konnte man beispielsweise tausende Menschen aus der Türkei beobachten, die mehrheitlich KurdInnen waren, sich aber als TürkInnen fühlen und sich für Erdogan freuten.

Weshalb spezialisiert sich der Experte nicht ausschließlich auf die KurdInnen? Was ist der Unterschied zwischen den alevitischen und sunnitischen KurdInnen, zwischen den ZazaInnen und den sunnitischen ZazaInnen, welche auch als KurdInnen proklamiert werden aber eine andere Sprache sprechen? Die sunnitischen KurdInnen und ZazaInnen wählen Erdogan, die alevitischen fühlen sich von den sunnitischen KurdInnen und ZazaInnen, die teilweise in der AKP-Regierung als MinisterInnen und Geheimdienstchefs sitzen, verfolgt. Wieso wird das nicht zum Thema der Diskussionen erhoben? Stattdessen wird immer über die Mehrheit der TürkInnen gesprochen und das obwohl auch die Mehrzahl der KurdInnen stolz auf Erdogan sind, man kann dies nicht pauschal auf TürkInnen auslegen.

Darüber hinaus gibt es ebenfalls sozial linke KurdInnen bzw. ZazaInnen und SunnitInnen und solche, die in der Mitte des politischen Spektrums geblieben sind. Wie man unschwer erkennen kann, ist dies ein überaus komplexer Sachverhalt, hier braucht es kritische ExpertInnen, die diese Themen in der Öffentlichkeit besprechen und sich nicht als KurdInnen proklamieren, wie dies Herr Güngör tut.

Er ist als Aktivist kritisch, das respektieren wir auch, auf der anderen Seite behauptet er Dinge über TürkInnen und über den Islam, welche nicht der Wahrheit entsprechen. Wenn wir diesen Zustand kritisieren, werden wir als „sonderbar“ bezeichnet. Diese Anomalie muss aufgehoben werden, damit wir hier in Österreich offen und kritisch Probleme diagnostizieren und Lösungen anbieten können, um die kausalen Beziehungen hinter diesen Konflikten verstehen zu können. Sonst wird diese Wahrheit manipuliert sowie. Das darf man nicht erlauben!

Kurden und Türken

Auch der neue Außenminister der AKP/Erdogan-Regierung Hakan Fidan, Vize-Präsident Cevdet Yilmaz oder der Chef des Geheimdienstes MIT, Ibrahim Kalin sind kurdischer bzw. zazaischer Abstammung, wie übrigens auch viele Funktionäre der AKP-Erdogan-Regierung. Ich kann hier hunderte weitere Namen nennen.

Erdogans Bündnisfreunde sind nicht nur ehemalige Weggefährten, sondern auch von ihm Begnadigte, wegen Mordes verurteilte Menschen oder verfassungsfeindliche und fundamentalistische ehemalige Gefängnisinsassen und deren Freunde der sunnitisch-kurdischen Hizbullah, heute getarnt als „Hüda Par“ Partei“.

Die Hüda Partei ist eine proklamierte, islamischtisch-fundemantalistische, sunnitische Kurdenpartei in der Türkei, die jetzt gemeinsam mit der AKP Erdogans als Abgeordnete ins türkische Parlament TBMM gewählt wurde.

Die im Jahre 2012 gegründete Partei gilt als Vertreterin der Ideologie der kurdisch-islamistischen Miliz Hizbullah, die im Jahre 2000 angeblich vernichtet wurde. Wie man sieht, überlebte die Hizbullah unter dem Deckmantel einer offiziellen politischen Partei.

1994 gingen zahlreiche Morde auf das Konto der sunnitisch-kurdischen Hizbullah, also von Personen, die heute der HÜDA-PAR angehören. Ein Abgeordneter, mehrere JournalistInnen und ca. 3.000 Menschen kamen durch die terroristischen Anschläge ums Leben. 2001 ermordete die Hizbullah den Polizeichef Gaffar Okkan in Diyarbakir, der engagiert und mutig gegen die sunnitisch-kurdische Hizbullah in der Türkei vorgegangen war.

Wenn man die Zahlen in Österreich mittels einer einfachen Faktenkontrolle nachrechnet, lässt sich eines erkennen: Kenan Güngör verschleiert durch einen Nebensatz die Wahrheit. Um die 60.000 in Österreich lebenden türkischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben an der türkischen Parlamentswahl teilgenommen, von diesen und nur von diesen, wählten circa 70% Erdogan, das macht aber nur um die 42.000 Menschen aus.

Diese Zahl der 42.000 WählerInnen entspricht interessanterweise genau jenen ab 1980 aus der Türkei aufgrund des militärischen Putsches geflohenen Vereinsmitgliedern bzw. ideologisierten Personen, die nun schon seit 40 Jahren vorsätzlich in einem liberalen Land wie Österreich durch reaktionär politische Vereine antiliberales und antidemokratisches Gedankengut verbreiten und verfassungsfeindlich gegenüber einer modernen Türkei agieren. Von Österreich aus können sie leichter ihre Beziehungen in alle Welt spannen und politische Untergrundarbeit verrichten.

Man kann also feststellen, dass es über 200.000 aus der Türkei stammende Österreicherinnen und Österreicher (StaatsbürgerInnen) gibt, die nicht Erdogan gewählt haben, die gegen Erdogan und dessen konfessionalistisch-ihvanistischen Gesinnungsfaschismus sind.

Sie können weder auf Erdogan noch auf die AKP/Erdogan-Regierung stolz sein.

Warum also ging die Mehrheit der AustrotürkInnnen nicht zur Wahl?

Weil die Mehrheit schon österreichische StaatsbürgerInnen und damit nicht wahlberechtigt sind. Außerdem wollen sie mit Erdogan und mit den Wahlen in der Türkei nichts mehr zu tun haben bzw. haben sich vom Wahlgeschehen abgewandt, weil sie sich von AKP-AktivistInnen und ihren eigenen FreundInnen eingeschüchtert und verfolgt fühlen. Was soll das alles? Wo leben wir?

All das ist für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger aus der Türkei in Österreich zum Fremdschämen und eine Schande.
Sie fühlen sich von der Erdogan-Regierung und ihren verlängerten Armen und Kommunikationskanälen in Österreich und in der EU verfolgt und schikaniert und fragen sich, welches Selbstwertgefühl Erdogan den TürkInnen gegeben haben soll. Diese Frage geht insbesondere an die sogenannten ExpertInnen!

Importierter Menschentypus

Die reaktionäre Regierung der Türkei versucht unter dem Vorwand des Konservativismus und des Nationalismus einen Menschentypus nach Österreich zu importieren, welcher mit der modernen Atatürk-Türkei bzw. der modernen Republik Österreich, der westlichen Wertegemeinschaft – und als überzeugter säkularer Muslim füge ich hinzu: mit dem “wahren Islam” – nichts zu tun hat.

Zu diesem Zweck setzt die reaktionäre türkische Regierung, leider mit großem Erfolg, jedes Mittel ein.

Alle diese im folgenden genannten indoktrinierenden Gedanken, Haltungen und Aussagen verbreitet Erdogans Regierung durch gekaufte und gleichgeschaltete türkische AKP-Medien bzw. soziale Medien mittels Deep Fake in der Türkei und in der EU:

– Verzerrte türkisch-historische Erzählungen, die über Filmreihen auf dutzenden von Fernsehkanälen ausgestrahlt werden. Diese Filmreihen zeigen übertriebene Heldengeschichten, die auf dem Klischee “wir (gut) und ihr (böse)” basieren, bis hin zu Aktivitäten von reaktionären Sekten.

– Zeitschriften und tendenziöse Frauensendungen, sowie religiös-radikale Talkshows, Schul-Lehrpläne, Nachrichtensendungen, Plakate, Reklame und Musik.

– Den Versuch, in der Türkei und im Ausland einen neuen Menschentypus zu schaffen, der nicht nur in Wien, sondern auch in Istanbul, sehr fremd ist.

– Durch die Ankara-Regierung wurde in den letzten 20 Jahren eine massive kulturelle Transformation – auch in Österreich – herbeigeführt, die bereits eine sehr große Masse von Menschen ergriffen hat. Ungerechtigkeit, Diebstahl, Korruption, Bestechung, Dreistigkeiten, Frechheiten, Grausamkeiten und Verleumdung werden als ganz normale Eigenschaften manifestiert, als ob sie die Bedingungen für eine bessere Lebensführung oder die fünf Säulen des Islams wären. Das ist ein großer Betrug im Namen Gottes.

Die Menschen lassen sich durch diese Erdogan-Propaganda stark manipulieren. Aber nicht alle!

Wir sehen diesen neugeschaffenen Menschentypus Erdogan’scher Prägung in Wien und in ganz Europa und das, obwohl diese Menschen hier schon lange leben und hier aufgewachsen sind. Diese Menschen können wir nicht einfach pauschal als “die TürkInnen” abstempeln. Schon gar nicht als “Experte”.

Österreich darf sich nicht von solchen politischen Religionsvereinen und Parteiablegern, die einen ungesunden Nationalismus, Verfassungsfeindlichkeit und Fundamentalismus aus dem Ausland hierher importieren, an der Nase herumführen lassen!

Zu Punkt 1- Einspruch: Die erste Generation der Türkinnen und Türken waren zivilisierte BürgerInnen aus der Türkei

Es gibt nachweislich eine hohe kriminelle Energie gegenüber den freiheitlichen, vielfältigen, demokratischen und säkularen Kräften in der Türkei. Besonders spürbar sind diese kriminellen Machenschaften in Deutschland, Österreich, Holland und Belgien, oft unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit und der Solidarität mittels reaktionärer Vereine, islamischer Gemeinden und Verbände.

Hier müssen wir die Spreu vom Weizen trennen: Das hat mit der ersten Generation der Türken, die in den 1960er-Jahren, wenn auch nicht mit hoher aber doch zumindest mit einer Mindestausbildung hierherkamen, nichts zu tun, wie der Experte (oben Punkt 1) wiederholt behauptet. Diese Einwanderer, die schon sehr lange hier leben, haben ein zivilisiertes Auftreten und hatten ein Bürgerbewusstsein und Respekt gegenüber der laizistischen, sozialen, demokratischen Türkei, als sie z.B. 1960-1975 als willkommene GastarbeiterInnen nach Österreich kamen. Die Türkei war schon 1920 durch Atatürks Reformen auf westliche Standards angehoben worden.

Die Diagnose bzw. These von Güngör (oben Punkt 1), dass die aus den ländlichen Gebieten stammenden TürkInnen in Österreich generationsübergreifend konservativ wählen, ist unserer Meinung nach falsch, auch wenn diese Aussage von PolitikerInnen, JournalistInnen und vielen anderen Menschen als „unveränderbar richtig“ wahrgenommen und verbreitet wird.

Dagegen müssen wir in aller Sachlichkeit Einspruch erheben.

Auch diese Generation war und ist durchaus modern, was unter anderem daran zu erkennen ist, dass die Mehrheit der Frauen ohne bzw. mit modern getragenem Kopftuch (vor der Ihvanisierung – Ihvan: Moslem Bruder in Ägypten) hierherkam und ebenfalls modernen Berufen nachgingen.

Dies ist ein typisches Bild der Menschen der 1960er-Jahre.

Zwischen 1961 und 1974 kamen 265.000 GastarbeiterInnen nach Österreich, zunächst JugoslawInnen, später erst TürkInnen (davon übrigens lediglich 11,8%!). Sie waren vielleicht arm, hatten aber schon die freie Demokratie und das staatsbürgerliche Wertedenken in Atatürks Türkei ab 1923 erlebt.

Die türkische Republik feiert 2023 ihr hundertjähriges Bestehen. Sie wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Heute ist sie, wie wir feststellen müssen, einer starken Talibanisierung oder Erdoganisierung ausgesetzt.

Am 7.7.2023 sahen wir in den türkischen Zeitungen eine Erklärung von 25 – übrigens regierungsnahen – NGOs, die das Verbot von Festivals forderten. Die Balikesir Civil Society Platform, bestehend aus 25 Organisationen, darunter TÜGVA, MÜSIAD, Ilim Yayma Cemiyeti und AGD. Diese fordern die Abschaffung von Festivals mit der Begründung, dass sie “die Moral der Jugend korrumpieren” und “sie zu Rebellion und Aufruhr verleiten”. Die Plattformen forderten auch, dass Frauen und Männer an allen Aktivitäten getrennt teilnehmen sollten.

Alle diese regierungsnahen NGOs sind auch in Österreich und in der EU sehr aktiv!

Betrachten wir die Bilder der GastarbeiterInnen aus der Türkei oder die Kleidung der Frauen in der Türkei in den 60er-Jahren. Fakt ist, dass die erste Generation dieser MigrantInnen einer restriktiven Kontrolle durch die österreichische Wirtschaftskammer und sogar durch das österreichische Gesundheitsministerium, unterzogen wurde. Sie waren gut ausgebildet und überdies kerngesund, andernfalls hätten sie keine Arbeitserlaubnis erhalten.

Erst nach den 1960er-Jahren sehen wir in Wien und in Europa generell Menschen, die unzivilisiert, respektlos und skrupellos gegenüber der Aufnahmegesellschaft sind.

Mit ihren radikalen Aussagen und ihrem frechen Auftreten jagen sie, genau wie die verlängerten Arme der AKP/MHP und die Grauen Wölfe, den andersdenkenden Menschen aus der Türkei Angst ein.

Alle Menschen, die mit diesem Radikalismus nichts zu tun haben wollen, fühlen sich infolgedessen verfolgt und diskriminiert und trauen sich nicht mehr ihre Meinungen frei zu äußern. Dies können wir auch bei zahlreichen österreichischen Journalistinnen und Journalisten beobachten, welche die Namen ihrer InterviewpartnerInnen aus der Türkei, die sich während der Wahlen am 14. und 18. Mai 2023 gegen Erdogan geäußert hatten, zu deren Sicherheit nicht nennen konnten.

Fazit: Die radikalen AnhängerInnen der AKP und Erdogans sind in Wahrheit nichts anderes als eine Minderheit, welche uns durch die AKP-Lobbyisten und die sozialen Medien als Mehrheit verkauft wird.

Sie vermitteln der Aufnahmegesellschaft in Österreich ein unsicheres Gefühl und stellen für die Einwanderinnen und Einwanderer aus der Türkei eine große Gefahr dar.

Nicht nur Österreich, alle europäischen Länder weisen ein massives Sicherheitsproblem auf, weil sie unter denselben Konfessionen auch MuslimInnen aus anderen Ländern unter dem ideologischen Ziel der Errichtung eines verfassungswidrigen Kalifats sammeln und für ein anti-westliches, anti-demokratisches, wohl letztlich auch anti-multireligiöses Leben auf deren Staatsgebiet plädieren. All dies geschieht vor unseren Augen mitten in Europa und wir stehen regungslos da wie das Kaninchen vor der Schlange. Ein moderner Rechtsstaat darf solche Umtriebe nicht dulden!

Wir Menschen aus der Türkei, die wir uns mit den demokratischen und verfassungsrechtlichen Werten unserer neuen Heimat Österreich identifizieren, erheben als wehrhafte Demokratinnen und Demokraten Einspruch, besonders gegenüber denjenigen ExpertInnen, die pauschal ein manipulatives, einseitiges Bild der Türkei und der Menschen aus der Türkei in Österreich verbreiten. Sie rufen das Bild der “ewigen TürkInnen” in den Köpfen der Menschen hervor.

Dieses korrumpierende Verhalten, dass wir in der Gesellschaft sehen wird gefördert durch Korruption, Scheinheiligkeit und eine eigentümliche Pseudotoleranz, die das Gegenteil von dem bewirkt, was sie sich eigentlich zum Ziel gesetzt hat. ( Birol Kilic, Analyse, 20.06.2023)


Weitere links:

Güngörs Fehldiagnose im “Standard.at“: “Die ewigen Türkeistämmigen“ in Österreich gegen “Das ewige Rassistenland Österreich“



https://www.tuerkische-allgemeine.de/2023/09/14/guengoers-fehldiagnose-im-standard-at-die-ewigen-tuerkeistaemmigen-in-oesterreich-gegen-das-ewige-rassistenland-oesterreich/

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