Zum Fremdschämen
Die Regierung in Ankara tritt im türkischen Parlament TBMM die türkische Verfassung mit Füßen. Aus der Demokratie ist seit dem 30. Januar 2024 eine echte “Kakokrasi” geworden.
von Birol Kilic, 31.01.2024, Analyse aus Wien
Warum zum Fremdschämen! Dem inhaftierten türkischen Menschenrechtsanwalt Can Atalay wurde am 30.Janaur.2024 im türkischen Parlament von der AKP und der Koalitionsmehrheit das Abgeordnetenmandat entzogen, obwohl die türkische Republik in einem Verfassungsbeschluss die sofortige Freilassung des Inhaftierten gefordert hatte. Atalay, bisher Abgeordneter der Provinz Hatay, verlor sein Mandat am Dienstag aufgrund eines rechtskräftigen Urteils, das in Abwesenheit Atalays im Parlament in Ankara verlesen wurde. Oppositionsabgeordnete unterbrachen gestern die Verlesung des Urteils immer wieder mit Buhrufen und hielten Plakate mit der Aufschrift “Freiheit für Can Atalay” hoch. Laut Experten wird die erstmalige Nichtumsetzung der Urteile des Verfassungsgerichtshofes der Republik Türkei, durch eine Entscheidung des Kassationsgerichtes, kann dazu führen, dass das Verfassungsgericht vom EGMR nicht mehr als wirksamer, innerstaatlicher Rechtsbehelf angesehen wird.
Aus der Demokratie ist seit gestern eine Kakokrasi geworden.
Die Regierung in Ankara hat die halbwegs funktionierende und verbesserungsbedürftige Demokratie, die mit der Gründung der modernen Türkei am 29.10.1923 entstanden ist, in den 22 Jahren ihrer Herrschaft seit gestern in eine Kakokrasi verwandelt. Kakokrasi bedeutet die Degeneration der Demokratie und der Verfassung, in der die Regierungen in allen Bereichen des Regierens kläglich versagt haben, aber so tun, als hätten sie es sehr gut gemacht und damit ihr eigenes Überleben gesichert.
Atalay sitzt seit April 2022 in Haft, obwohl das Verfassungsgericht seine Freilassung angeordnet hatte. Die AKP und ihre Verbündeten im türkischen Parlament haben damit einen Verfassungsputsch provoziert, der auch ihre Existenzberechtigung in Frage stellt. Diejenigen, die diese Resolution verfasst, verlesen und unterstützt haben, sind Verfassungsputschisten, die die türkische Verfassung mit Füßen getreten haben.
Das türkische Verfassungsgericht hatte im Oktober die Freilassung Atalays angeordnet, ein untergeordnetes Gericht, das Kassationsgericht, entschied jedoch, diese Anordnung nicht umzusetzen. Das Urteil gegen Atalay im sogenannten Gezi-Prozess ist inzwischen rechtskräftig. Es gilt als politisch motiviert und wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für rechtswidrig erklärt.
Nach Artikel 153 der Verfassung der Republik Türkei sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, des höchsten Gerichts der türkischen Rechtsordnung, sind für die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt des Staates bindend.
In der Türkei wird die Krise von der Regierung in Ankara als Kompetenzkonflikt zwischen zwei hohen Gerichten dargestellt. Rıza Türmen (*1941 in Istanbul), türkischer Diplomat und ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, schreibt in T24 folgendes: “Ich schäme mich, diesen Artikel schreiben zu müssen. Der Punkt, an dem wir in der Gesetzlosigkeit angelangt sind, löst Scham und Trauer aus. Aber es macht mir auch Angst. In einem Land, in dem eine solche Gesetzlosigkeit herrscht, kann alles passieren. Wenn man diesen Zustand mit dem Ein-Mann-Regime in der Türkei kombiniert, wird die Tatsache, dass das Recht in diesem Regime das Urteil eines Mannes ist, noch deutlicher.Es gibt jedoch keinen Kompetenzkonflikt. Die Verfassung der Türkischen Republik ist sehr klar, was die Kompetenzverteilung zwischen den beiden obersten Gerichten angeht. Die gestrige Krise ist ein wichtiger Schritt zur Neuverteilung der politischen Macht im Prozess der Entdemokratisierung der Türkei. Artikel 153 der türkischen Verfassung ist eindeutig. Danach sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die Organe der Legislative, Exekutive und Judikative bindend und müssen umgesetzt werden. Diese Vorschrift gilt für alle Entscheidungen des Verfassungsgerichts der Republik Türkei.
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen
Eine weitere Konsequenz der Nichtumsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts findet sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Die Präambel der Erklärung lautet: “Um zu verhindern, dass Menschen als letztes Mittel gegen Herrschaft und Unterdrückung zur Rebellion greifen, ist es wichtig, dass die Menschenrechte durch Rechtsstaatlichkeit geschützt werden. ” Mit anderen Worten: Wenn die Menschenrechte nicht durch den Rechtsstaat geschützt werden, ist es legitim, dass sich Menschen gegen Herrschaft und Unterdrückung auflehnen. Dieser Widerstand ist berechtigt. Denn mit dem Verschwinden des Rechtsstaates, werden die Grund- und Freiheitsrechte des Einzelnen ihrer rechtlichen Garantie beraubt. Mit der Willkür des Souveräns, kann die Polizei in der Türkei morgens an der Tür jedes Andersdenkenden klopfen. Wer dazu schweigt, akzeptiert Unterdrückung und Herrschaft. Es ist eine moralische Verpflichtung, sich gegen Unterdrückung, Herrschaft und Willkür zu wehren. Wenn keine Stimme gegen Rechtlosigkeit erhoben wird, wird Rechtlosigkeit grenzenlos. Wo sie beginnt und wo sie endet, bleibt dem Willen des Souveräns überlassen. Wenn der Einspruch gegen die Rechtlosigkeit zur gesellschaftlichen Opposition wird, dann werden zumindest die Grenzen der Rechtlosigkeit klar und berechenbar.”
Die Regierung in Ankara tritt die türkische Verfassung im türkischen Parlament in bedrohlicher Weise mit Füßen. Mit der Ein-Mann-Regierung in Ankara und den reaktionären fundamentalistischen Bündnisparteien hat die Türkei einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen und spielt mit dem Feuer!
Die EU und die demokratischen Kräfte in Österreich dürfen dem nicht tatenlos wie bis jetzt zusehen. Rechtsstaatlichkeit, Volkswille und Verfassung dürfen von der Regierung in Ankara im türkischen Parlament nicht ignoriert werden .Die Situation in der instabilen Türkei steuert auf eine “wahnsinnige Krise” zu, die mit dem verlängerten Arm oder der fünften Kolonne der Regierung in Ankara in der EU zu importierten demokratiepolitischen Problemen auch in Österreich führen kann und wird.
Das dürfen wir nicht mehr zulassen
Die Türkei erlebt durch die Regierung in Ankara und die mit ihr verbündeten Parteien eine Filmszene aus “Es war einmal Amerika”, jetzt aber “Es war einmal Türkei”, wo die halbwegs funktionierende freiheitlich-demokratische säkulare Grundordnung von Grund auf zerstört wird, wo auch die Verantwortungslosigkeit und der Opportunismus der EU und insbesondere der USA diesen Zustand herbeigeführt haben und wo jetzt eine Afhganisierung und Syrienisierung der Türkei und damit ein großer Sumpf entsteht. Es wird ein EU-Sumpf sein. Das dürfen wir nicht mehr zulassen.
Die EU muss sich ab jetzt großer Sorgen machen. Die Versumpfung der modernen Türkei vor den Toren der Europäischen Union ist zum Teil auch das Ergebnis der Verantwortungslosigkeit und des Opportunismus der EU gegenüber der Türkei in den letzten 50 Jahren.
Die Türkei erlebt durch die AKP-Regierung und die mit ihr verbündeten Parteien eine Filmszene aus “Es war einmal Amerika”, jetzt aber “Es war einmal Türkei”, wo die halbwegs funktionierende freiheitlich-demokratische säkulare Grundordnung von Grund auf zerstört wird, wo auch die EU und insbesondere die USA diesen Zustand herbeigeführt haben und wo jetzt eine Afhganisierung und Syrienisierung der Türkei und damit ein großer Sumpf entsteht. Es wird ein EU-Sumpf sein.
Dieser Sumpf wird trotz dieser Sicherheitsmaßnahmen und Grenzsicherung zwischen Griechenland und Bulgarien mit Milliarden an EU-Subventionen auch die EU in sich hineinziehen. Die Türkei wird das Pakistan der EU auf dem Weg zur de facto eine Afhganisierung.
Es wurden sehr viele Fehler gemacht, damit die AKP an der Regierung bleibt und am Ende ohne demokratische Prozesse in der Türkei alles macht, was die EU-Mitglieder oder die EU angeblich wollen. Das war heuchlerisch.
Auch jetzt versucht die EU, vor allem Italien, die illegalen Afrikaner über die undemokratische ehemalige AKP-Regierung mit Geld in die Türkei zu schleusen. Die albanische Verfassung erlaubte das nicht, aber jetzt kann die EU froh sein, dass die Verfassung in der Türkei von der AKP mit Füßen getreten wird. Jetzt kann die EU unverschämterweise die illegalen Flüchtlinge mit Pro-Kopf-Zahlungen wie Tiere in die Türkei schicken, wo die türkischen BürgerInnen leiden und Wahnsinn erleben und dadurch Wut und Hass entwickeln.
Die rechte italienische Premierministerin Meloni war in der Türkei und hat mit dem korrupten AKP-Vorsitzenden und Präsidenten Erdogan darüber (durch korrupte Milliarden) gesprochen und jeder spricht und schreibt über die Hinterhältigkeit der illegalen Flüchtlingspolitik Italiens, Englands und der EU gegenüber der Türkei.
Nach meiner schrecklichen, aber durch Fakten untermauerten Analyse kann man nicht die ungeschickte und zusammenfassende Schlussfolgerung ziehen: “Die Türkei muss raus aus der NATO und der EU, das war’s”.
Die EU und die USA wollten auch eine diktatorische Regierung in der Türkei, um sich demokratische Prozesse und Diskussionen zu ersparen und die Türkei in einen Mülleimer zu verwandeln. Die Frage, warum kein Protest aus der EU kommt, ist damit beantwortet. Zum Fremdschämen. Wir warnen als wehrhafte Demokraten: Das kann nicht gut gehen.
( Birol Kilic, Türkische Allgemeine, 31.01.2024, Wien, Analyse)